Erklärung

Aus langem Schlaf erwacht: Art. 15 GG und die Vergesellschaftung von Wohnraum

Die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen unterstützt die Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen - Spekulation bekämpfen“. Im zugespitzten Wohnungsmarkt zeigt sich die besondere verfassungspolitische Bedeutung des Art. 15 GG: Eine Vergesellschaftung des Wohneigentums bricht das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Mieter*innen und gewinnorientierten Wohnungsunternehmen auf und schafft die Grundlage für eine soziale Stadtentwicklung.

Steigende Mieten und die Verdrängung aus der Stadt

Wohnen ist ein Grundbedürfnis. Menschen müssen in den deutschen Städten jedoch immer größere Teile ihres Nettoeinkommens für Wohnraum aufwenden. Gewinngetriebene Mieterhöhungen zugunsten großer Wohnungsunternehmen prägen die urbanen Wohnungsmärkte und führen zu einer immer weiteren Verdrängung von Menschen mit geringen oder durchschnittlichen Einkommen aus der Stadt.

Vergesellschaftung als Alternative zum Markt

Die bisher von der Politik ergriffenen Rechtsinstrumente – Mietpreisbremse, Milieuschutzverordnungen, etc. – haben sich als wenig effektiv gegen immer weiter steigende Mieten erwiesen. Die Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen – Spekulation bekämpfen“ organisiert nun eine alternative Politik von unten: 1 Sie will durch einen Volksentscheid ein Vergesellschaftungsgesetz auf den Weg bringen, das gewinnorientierte Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen in Gemeineigentum zum Zwecke der Vergesellschaftung überführt. 2 Die Initiative beruft sich neben Art. 28 Abs. 1 der Berliner Landesverfassung, der jedem Menschen ein Recht auf angemessenen Wohnraum garantiert und dem Land dafür eine besondere Verantwortung zuspricht, auf Art. 15 GG: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 S. 3 und 4 GG entsprechend.“

Der Vergesellschaftungsartikel war bis dato schlafendes Verfassungsrecht, dem keine praktische Relevanz zukam. Dass in der gegenwärtigen Wohnungskrise der Artikel nun erstmalig aktiviert wird, zeigt seine verfassungspolitische Bedeutung und gesellschaftspolitische Relevanz: Die Verfassung eröffnet die Möglichkeit einer Demokratisierung des Privateigentums und verweist damit auf eine Wirtschafts- und Eigentumsordnung jenseits des Marktes. Eigentum an privaten Wohneigentum (Grund und Boden) kann dem Markt entzogen werden, um dieses in demokratische und soziale Eigentumsformen zu überführen. Damit bietet das Grundgesetz als Verfassung echte Handlungsalternativen für eine soziale Wohnpolitik.

Offene Eigentums- und Wirtschaftsordnung im Grundgesetz

Diese Sozialisierungsermächtigung in Art. 15 GG ist Ausdruck des wirtschaftspolitischen Kompromisses des Grundgesetzes. Das Grundgesetz schreibt keine konkrete Wirtschaftsordnung vor, sondern ist, wie es das Bundesverfassungsgericht mehrfach formuliert hat, wirtschaftspolitisch neutral.3 Diese Neutralität zeichnet sich durch eine Gleichzeitigkeit von einer privaten Eigentumsgarantie und der Unterordnung des Eigentums unter die demokratische Politik in Art. 14 und Art. 15 GG aus. So existiert nach Art. 14 Abs. 1 GG kein natürliches Eigentum, vielmehr werden Inhalt und Grenzen des Eigentums durch die demokratische Gesetzgebung definiert. Darüber hinaus sieht Art. 14 GG in Abs. 2 die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und in Abs. 3 lediglich eine „angemessene“ Entschädigung, d. h. keine zwingende Entschädigung zum Verkehrswert, vor. Während Art. 14 GG das private Eigentum adressiert, eröffnet Art. 15 GG die Möglichkeit bisher privates in demokratisch verwaltetes Eigentum zu transformieren und damit eine nicht-kapitalistisch organisierte Wirtschaftsordnung in der bestehenden Ordnung zu etablieren. Die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes führt also dazu, dass die konkrete Eigentums- und Wirtschaftspolitik in den Händen der demokratischen Gesetzgebung liegt.

Vor dem Hintergrund des durch die Privatwirtschaft getragenen Faschismus und den sozialistischen Ideen der Nachkriegszeit sicherte diese wirtschaftspolitische Offenheit die Zustimmung der beiden großen Parteien zum Grundgesetz im Parlamentarischen Rat. In der Wissenschaft betonte insbesondere der Jurist Wolfgang Abendroth die Offenheit des Grundgesetzes für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Er sah darin das Potential, die „Systemfrage“ innerhalb der gegebenen Verfassungsordnung zu stellen: Der im Grundgesetz formulierte demokratische und soziale Rechtsstaat stelle die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zur Disposition des demokratischen Willens und eröffne dem demokratischen Volk die Möglichkeit, seine eigenen Grundlagen umzuplanen und sich zu einer sozialen Demokratie zu entwickeln.4

In der aktuellen Diskussion um die Enteignung von großen Wohnungsunternehmen geht es nicht um die „Systemfrage“, dennoch demonstriert Art. 15 GG, dass demokratische Handlungsmöglichkeiten jenseits einer bloßen Regulierung des privaten Wohnungsmarktes existieren. Die verantwortliche Politik ist nicht darauf beschränkt, den privaten Wirtschaftsakteuren Grenzen zu setzen und Pflichten aufzuerlegen. Art. 15 GG ermöglicht den Ländern vielmehr, die Wohnungsbestände großer Immobilienunternehmen durch ein Landesgesetz zu vergesellschaften, um auf diese Weise die Maximierung privatnütziger Gewinnerzielung zulasten von Mieter*innen zu beenden. Ist die Sozialisierung wie vorliegend auf die Versorgung der Berliner Bürger*innen mit Wohnraum beschränkt, dann ist diese im Wesentlichen Ausdruck einer sozialen Marktwirtschaft.

Verfassungsrechtliche Vorgaben in Überblick

Art. 15 GG ermächtigt die demokratische Gesetzgebung dazu, Grund und Boden zu sozialisieren, d. h. in privates Eigentum zugunsten der Sozialisierung einzugreifen.5 Grund und Boden ist gleichbedeutend und bezieht sich auf Grundstücke und deren Bestandteile, also auch auf Wohnungsimmobilien. Diese Ermächtigung verweist auf die besondere Bedeutung des Bodens als begrenzter Ressource, auf die aber alle Bürger*innen zur Daseinsvorsorge angewiesen sind.

Die Überführung von Privateigentum in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft muss zum Zweck der Sozialisierung erfolgen. Sozialisierung meint dabei eine wirtschaftliche Handlungsform, die nicht der privaten Gewinnerzielung, sondern der Bedürfnisbefriedigung der Allgemeinheit dient.6 Es geht also um eine sozialorientierte Form des Wirtschaftens, die durch öffentliche (Selbstverwaltungs-)Träger getragen wird. In diesem Sinne schlägt die Berliner Initiative die Überführung der privaten Wohnungsbestände in eine Anstalt des öffentlichen Rechts mit einem demokratisch gewählten Verwaltungsrat, besetzt durch Angestellte, Mieter*innen der Anstalt, Vertreter*innen der Stadtgesellschaft und des Senats, vor, die eine gemeinwirtschaftliche Bedarfsdeckung sicherstellt.

Umstritten ist, ob eine Vergesellschaftungsreife gegeben sein muss. Dies würde bedeuten, dass nur Objekte von wirtschaftlicher Bedeutung sozialisiert werden können und Kleinbetriebe ausgeschlossen sind. Da die Berliner Initiative lediglich Wohnungsunternehmen mit mindestens 3.000 Wohnungen sozialisieren möchte und dies etwa 15 Prozent des Mietwohnungsbestandes in Berlin umfasst,7 liegt die Vergesellschaftungsreife jedenfalls vor.

Ebenso ist umstritten, ob die Vergesellschaftung am Verhältnismäßigkeitsprinzip zu messen ist. Auch dies kann dahinstehen, weil eine Sozialisierung großer Wohnungsunternehmen vor dem Hintergrund des durch Art. 15 GG gewährten weiten Handlungsspielraums der Gesetzgebung, der fehlenden Effektivität bisher ergriffener Maßnahmen und dem öffentlichen Interesse an einer Versorgung der Bürger*innen mit bezahlbaren Wohnraum zu bejahen ist. In einem aktuellen Beschluss zur Mietpreisbremse hat das Bundesverfassungsgericht formuliert, dass es im öffentlichen Interesse liegt, „der Verdrängung wirtschaftlich weniger leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen aus stark nachgefragten Stadtteilen entgegenzuwirken.“8 Damit hat das Bundesverfassungsgericht die Bekämpfung von Gentrifizierung als Grund, um in das Eigentumsrecht einzugreifen, grundsätzlich anerkannt. Für Berlin ist zu berücksichtigen, dass die Berliner Landesverfassung in Art. 28 Abs. 1 die Schaffung von angemessenem Wohnraum als Verfassungsziel ausdrücklich adressiert. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Art. 15 GG keine besonderen Voraussetzungen für die Sozialisierung aufstellt, sie muss lediglich zum „Zwecke der Vergesellschaftung“ erfolgen. Gerade weil Art. 15 GG dazu dient, alternative Formen des Wirtschaftens innerhalb der bestehenden Ordnung zu ermöglichen, dürfen keine hohen Anforderungen zur Rechtfertigung des Eingriffes in das Eigentumsrecht der Wohnungsunternehmen aufgestellt werden.

Die Entschädigung ist nach Art. 15 S. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Da Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG dem Wortlaut nach nicht auf den Verkehrswert abstellt, bedarf es nach Art. 14 Abs. 3 GG nicht zwingend einer Entschädigung in dieser Höhe. Vielmehr stellt der Wortlaut auf Interessensausgleich zwischen den Interessen der Eigentümer*innen und der Allgemeinheit ab. Beide Seiten müssen berücksichtigt werden. Besonderheiten des Einzelfalls dürfen in die Abwägung einfließen. Für die Entschädigung bei Enteignung hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass der Gesetzgeber je nach Umständen den vollen Verkehrswert, aber auch eine darunter liegende Entschädigung bestimmen kann: „Die Maßstäbe für die Bestimmung der Enteignungsentschädigung sind einerseits die Interessen der Beteiligten und andererseits die Interessen der Allgemeinheit; sie sind in gerechter Weise gegeneinander abzuwägen. Die Enteignungsentschädigung soll das Ergebnis eines Interessenausgleichs sein und nicht die einseitige Anerkennung der Interessen des Betroffenen, aber auch nicht allein die der Allgemeinheit darstellen. (…) Der Gesetzgeber kann je nach den Umständen vollen Ersatz, aber auch eine darunter liegende Entschädigung bestimmen (…).“ 9 Nichts anderes kann für Art. 15 GG gelten.

Schließlich bleibt die Frage nach der Gleichbehandlung von Wohnungsunternehmen (Art. 3 Abs. 1 GG). Öffentliche Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften sind vom vorgeschlagene Vergesellschaftungsgesetz nicht umfasst. Diese Ungleichbehandlung von privaten und öffentlichen bzw. genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen kann jedoch damit gerechtfertigt werden, dass eine soziale Miethöhe bei landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften durch den Einfluss der öffentlichen Hand gewährleistet werden kann und Genossenschaften durch einen von den Mitgliedern demokratische gewählten Vorstand geleitet werden und anstatt einer Gewinnorientierung der wirtschaftlichen Förderung ihrer Mitglieder – also der Bewohner*innen – verpflichtet sind (§ 1 GenG). Auch lässt sich eine Ungleichbehandlung von Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen mit solchen mit weniger Wohnungen rechtfertigen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Schwellenwerte im Recht grundsätzlich zur Vereinfachung möglich sind, sie dürfen lediglich nicht willkürlich gewählt sein. Im Berliner Fall bringt der Wohnungsbestand von 3.000 Wohnungen eine gewisse Marktmacht und wirtschaftliche Bedeutung der Unternehmen zum Ausdruck, weshalb der Schwellwert von 3.000 Wohnungen nicht willkürlich gewählt ist. Damit liegt ein sachlicher Grund zur Differenzierung vor.

Zusammenfassung

Die Sozialisierung von großen Wohnungsunternehmen schafft in der Wohnungskrise Perspektiven jenseits des Marktes. Die Schaffung und der Erhalt von bezahlbarem Wohnraum und einer sozial durchmischten Stadt ist möglich. Die Verfassung gibt mit Art. 15 GG den Gesetzgebern dafür ein effektives Instrument an die Hand. Jetzt sind die Gesetzgeber gefragt, dieses auch zu nutzen. Die Berliner Bürger*innen haben mit ihrer mutigen Initiative für ein Bürgerbegehren gezeigt, dass sie auf die Politik nicht warten werden.

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1 Auch in Frankfurt am Main wurde ein Bürgerbegehren initiiert und wurden ausreichend Unterschriften gesammelt, das die Stadt Frankfurt zum Erhalt und Ausbau von Sozialwohnungen verpflichten soll („Mietentscheid Frankfurt“), https://mietentscheid-frankfurt.de/.

2 https://www.dwenteignen.de/.

3 BVerfGE 4, 7 (17 f.), Investitionshilfen; 50, 290 (337), Mitbestimmung.

4 Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, S. 114 ff.

5 Verschiedene Gutachten kommen zu dem Ergebnis, dass ein Vergesellschaftungsgesetz aufgrund Art. 15 GG unter bestimmten Voraussetzungen verfassungsrechtlich zulässig wäre: Geulen, Rechtliche Stellungnahme: Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungsimmobilien in Berlin, 21.11.2018; Vorwerk, Stellungnahme, 16.11.2018; Beckmann, Rechtliche Zulässigkeit und Grenzen einer Vergesellschaftung bzw. Sozialisierung von Wohnungsunternehmen in Berlin, 22.11.2018, abrufbar unter: www.stadtentwicklung.berlin.de; Wieland, Verfassungsfragen der Vergesellschaftung von Wohnraum. Rechtgutachten für die Bundestagsfraktion DIE LINKE im Abgeordnetenhaus von Berlin, August 2019, abrufbar unter: www.linksfraktion.de; Wissenschaftlicher Parlamentsdienst des Abgeordnetenhauses zu Berlin, Gutachten zur rechtlichen Bewertung der Forderungen der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, 21.08.2019, abrufbar unter: www.parlament-berlin.de.

6 Bryde, Art. 15 GG, in: Münch/Kunig 2012, Rn. 3.

7 Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen v. 23.04.2019, Schreiben an den Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin (Nr. 171 A).

8 BVerfG, Beschluss vom 18.07.2019, 1 BvL 1/18 u.a., Mietpreisbremse.

9 BVerfGE, 24, 376 (421), Hamburgisches Deichordnungsgesetz.

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