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Erklärung der EJDM zur vierten Änderung der ungarischen Verfassung

Die Europäische Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt äußert schwere Besorgnis hinsichtlich der jüngsten Änderungen in der ungarischen Verfassung durch die mit Zweidrittelmehrheit regierende Fidesz-Partei und die Christdemokraten am 11. März 2013. Diese Veränderungen drohen die bereits zuvor stark angegriffen demokratischen Strukturen des ungarischen Staates weiter einzuschränken.

Sie verletzen sowohl die Werte der Charta der Menschenrechte der Europäischen Union als auch die Europäische Konvention der Menschenrechte. Sie verletzen die Prinzipien der Menschenwürde, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als auch der Freizügigkeit und Meinungsfreiheit der Bürger der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Daher sind sie im Sinne des Art. 2 und Art. 6 EU unvereinbar mit den Verträgen der Europäischen Union. Die Union hat daher Maßnahmen gegen diese anhaltenden Vertragsverletzungen zu ergreifen.

1.
Die ungarische Regierung hat in den letzten Jahren wiederholt Gesetze verabschiedet, die grundlegenden Menschenrechten widersprechen und diskriminierenden Charakter aufweisen. Diese Gesetze sind daher wiederholt durch das ungarischen Verfassungsgericht aufgehoben wurden. Die Regierung hat auch wenig unternommen, um die Grundrechte der Minderheiten im Staat vor rassistischen und antisemitischen Angriffen zu schützen. Die anhaltende rassistische Diskriminierung der Roma-Minderheit zwingt diese Bürger, unter äußerst prekären Bedingungen zu leben. Die Forderung der rassistischen und antisemitischen Jobbik Partei, jüdischen Abgeordnete im Parlament zu zählen, hat einen Aufschrei der Empörung in ganz Europa ausgelöst. Jüngst erhob eine rechte studentische Vereinigung, welche der Jobbik nahesteht, in Budapest ungehindert die etwaige jüdische Religionszugehörigkeit von Studentinnen und Studenten des ersten Semesters. Und neofaschistische Milizen, welche ebenfalls mit der Jobbik Partei verbunden sind, marschieren frei durch ungarische Kleinstädte und bedrohen vermeintliche Roma und Migrantinnen und Migranten. Lediglich die größte dieser Milizen, die Magyar Garda, wurde durch die Regierung auf internationalen Druck hin verboten.

Die ungarische Regierungskoalition hat im Laufe ihrer Amtszeit demnach viel zu wenig getan, um diese diskriminierenden und menschenrechtswidrigen Agenden zu bekämpfen. Sie hat dabei ihre Verpflichtungen aus Art. 2 EU weitgehend unbeachtet gelassen. Gemäß Art. 2 EU sind die Werte, auf die sich die Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet. Die Mitgliedstaaten haben über die Wahrung dieser Werte zu wachen. Dies hat der ungarische Staat über Jahre hinweg sichtbar unterlassen.

2.
Darüber hinaus hat die rechte Parlamentsmehrheit zunehmend Rechtsakte in den Verfassungsrang gehoben, die bürgerliche Freiheiten unverhältnismäßig einschränken und Art. 2 EU widersprechen. Zuletzt erfolgte eine solche nunmehr vierte Verfassungsänderung durch Parlamentsentscheid am 11. März 2013.

Diese vierte Änderung der ungarischen Verfassung ist dabei eine deutliche Antwort auf die jüngsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts, mit welchen es verschiedene Gesetzesvorhaben der Regierungskoalition für verfassungswidrig erklärt hat. Nunmehr hat die Regierungskoalition solche Gesetzesvorhaben, die zuvor als verfassungswidrig verworfen wurden, selbst in den Verfassungsrang erhoben. Die Folge dieses Vorgehens ist, dass das Verfassungsgericht diese Gesetzesvorhaben nunmehr nicht mehr auf ihre Verfassungskonformität hin überprüfen kann. Denn nach der Ansicht der Regierung kann ein Gesetz nicht verfassungswidrig sein, wenn es selbst Teil der Verfassung geworden ist.

Dabei bestehen in Ungarn derzeit nur zwei Instanzen, die die das Handeln der Regierung wirksam kontrollieren und ausbalancieren können: das Verfassungsgericht und die Ombudsmänner. Keine andere Instanz hat die Macht, die Art und Weise, wie die Regierung ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament nutzt, zu begrenzen. Die Beschränkung der Prüfkompetenzen dieser Instanzen gegenüber dem Handeln der Regierungskoalition hat daher weitreichende Folgen für das demokratische System der checks and balances im ungarischen Staat.

Aus diesem Grund gefährdet insbesondere Artikel 19 der Verfassungsänderung die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Denn er sieht vor, dass die bisherigen Entscheidungen des Verfassungsgerichts und ihre Begründungen bei der Auslegung der neuen Verfassung ("Alaptörvény") nicht mehr länger berücksichtigt werden dürfen. Mit dieser Veränderung ist die gesamte Rechtsprechung des Verfassungsgerichts seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus im Jahr 1989 praktisch für nichtig erklärt worden.

Die rechte ungarische Regierung hat bereits die Altersgrenze für Richter von 70 auf 62 gesenkt und damit viele Richterinnen und Richter des Amtes enthoben und diese Posten mit Sympathisantinnen und Sympathisanten der Regierung neu besetzt. Jetzt hat es dem Verfassungsgericht durch die Aufnahme der umstrittenen Gesetze in die Verfassung die Möglichkeit genommen, diese bereits zuvor als verfassungswidrig erklärten Gesetze zu verwerfen. Dem Verfassungsgericht ist es auch nicht mehr erlaubt, die die Verfassungsmäßigkeit neuer Gesetzesvorhaben unter Beachtung seiner vor der Verabschiedung der neuen Verfassung getroffenen Entscheidungen aus zu beurteilen. Darüber hinaus wird die Verwaltung das Recht haben, ohne Beachtung der Zuordnung des gesetzlichen Richters durch die gesetzlichen Bestimmungen beliebig Fälle von einem Gericht zu einem anderen hin zu verlagern. Die Regierungskoalition hat durch all diese Änderungen tief in die Unabhängigkeit der Justiz eingegriffen und die Möglichkeiten des Verfassungsgerichts, die Verfassung gegen künftige Rechtssetzungen zu schützen, erheblich eingeschränkt. Diese Regelungen sind unvereinbar mit den werten der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, welche Art. 2 EU zugrunde liegen.

Auch hat die Regierungskoalition eine Regelung erlassen, dass Wahlwerbung nur noch in den staatlichen Medien ausgestrahlt werden darf. Wahlwerbung in privaten Medien wird verboten. Diese staatlichen Medien werden aber durch die herrschenden Parteien im Staat stark beeinflusst. Dies beschränkt die Oppositionsparteien unzumutbar bei ihren Bemühungen, den politischen Diskurs zu verschieben und um Unterstützung bei den nächsten Wahlen gegen die Regierungsmehrheit im Parlament zu werben. Die Regelung begrenzt damit die Meinungsfreiheit und das Demokratieprinzip übermäßig. Art.11 der Charta der Grundrechte gewährt jedoch jedermann das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt auch die Freiheit ein, auf Informationen und Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen zuzugreifen. Auch liegt das Recht auf freie Wahlwerbung im Demokratieprinzip im Sinne des Art. 2 EU begründet. Die Verfassungsänderung der ungarischen Regierungskoalition verstößt gegen diese Rechte.

Weiter verpflichtet die Verfassungsänderungen solche Studentinnen und Studenten, die auf staatliche Hilfen angewiesen sind, nach Abschluss des Studiums in Ungarn zu arbeiten. Bei einer Arbeitsaufnahme in einem anderen Staat sollen Sanktionen folgen. Diese Regelung schränkt die Freizügigkeit dieser Studentinnen und Studenten stark ein. Sie widerspricht Art. 15 Abs. 2 der Charta der Grundrechte nach welchem jeder Bürger der Union die Freiheit hat, in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder auch Dienste anzubieten. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein Grundpfeiler der europäischen Integration. Die Verfassungsänderung verletzt ebenfalls die Zusicherung der Freizügigkeit unter Art. 45 S.1 der Charta der Grundrechte. Sie verstößt auch gegen die Zusicherung der Freizügigkeit unter Art. 21 AEUV.

Weiterhin bedroht die Verfassungsänderung Menschen ohne festen Wohnsitz mit Strafe, sollten sie in bestimmten Stadtteilen angetroffen werden. Diese Strafandrohung gegen Obdachlose trifft die schwächsten Glieder der Gesellschaft. Sie lastet ihnen die Fehler der Regierung an, die nicht für Unterkunft und Mindesteinkommen für seine Bürger gesorgt hat. Sie ist dazu eine reine Willkürregelung. Somit ist sie unvereinbar mit dem unabdingbaren Schutz der Menschenwürde, der unter Art.1 der Charta der Grundrechte gewährleistet ist, sowie den Werten der Union unter Art. 2 EU. Unter Art.1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist festgeschrieben, dass die Menschenwürde unantastbar ist und respektiert und geschützt werden muss. Unter Art. 2 EU ist weiter festgeschrieben, dass die Union auf der Achtung der Menschenwürde begründet ist. Die Strafandrohung gegen Obdachlose in der Verfassungsänderung verstößt gegen diese Rechte.

Weiterhin wird durch die Verfassungsänderung die Gemeinschaft einer biologischen Frau und eines biologischen Mannes zum Grundpfeiler der Familie erklärt. Diese emphatische Bevorzugung von heterosexuellen Paaren vor Alleinerziehenden und homosexuellen Partnern diskriminiert diese und schließt sie vom Schutz der Familie aus. Diese Änderung verstößt gegen Art.21 S.1 der Charta der Grundrechte, nach welchem jede Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung untersagt werden. Die Regelungen verstoßen im selben Sinne auch gegen Art.14 EMRK, Art. 2 EU und Art. 19 AEUV.

All diese Änderungen sind unvereinbar mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Europäischen Konvention der Menschenrechte. Sie verletzen demnach gemäß Art.6 S.1 EU, welcher die Beachtung der Charta und der Konvention den Mitgliedstaaten vorschreibt, auch die Verträge der Europäischen Union. Durch Art.6 EU muss die Charta der Menschenrechte zwingend durch alle Mitgliedsstaaten bei der Erfüllung ihrer verbindlichen Verantwortlichkeiten aus den Verträgen der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union beachtet werden. Der ungarische Staat hat die Charta der Grundrechte und die Menschenrechtskonvention bei Erlass der vierten Verfassungsänderung jedoch schlechthin unbeachtet gelassen.

3.
Die Europäische Union ist mit starken Maßnahmen ausgestattet, um Mitgliedsstaaten, die gegen die Verträge verstoßen, zu sanktionieren. Gemäß Art. 7 Abs. 2 EU kann der Europäische Rat auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EU genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat. Gemäß Art. 7 Abs. 3 EU kann der Rat dann, wenn die Feststellung nach Absatz 2 getroffen wurde, mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte dieses Staats auszusetzen, ihm auch ggf. das Stimmrecht zu entziehen.

Art. 260 AEUV stellt darüber hinaus klar, dass der Gerichtshof der Europäischen Union feststellen kann, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus diesem Vertrag verstoßen hat. Der Staat hat dann die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichts ergeben. Stellt die Kommission fest, dass der Staat seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, so kann er beim Gerichtshof die Festsetzung eines Zwangsgeldes beantragen.

Dennoch hat die Europäische Union lediglich gegenüber dem ungarischen Staat protestiert, jedoch keinerlei rechtlichen Schritte eingeleitet. Ihre Proteste sind bis heute folgenlos geblieben.

4.
Die EJDM bekundet ihre Unterstützung für und Solidarität mit den demokratischen Demonstranten in Budapest und ganz Ungarn und fordern die europäischen Regierungen als auch die Europäische Kommission auf, die Verletzungen der Verträge der Euopäischen Gemeinschaft und Union unter Berücksichtigung der Charta der Menschenrechte zu überprüfen und rechtliche Schritte gegen den Ungarischen Staat aufgrund der anhaltenden Verletzungen der Verträge einzuleiten.

Bei Presserückfragen wenden Sie sich an: Dr. Andreas Engelmann, Bundessekretär der VDJ, Tel.: 06971163438, E-Mail: bundessekretaer@vdj.de
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