Mitteilung

Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des „Gesetzes zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten und zur Erleichterung des Arbeitsmarktzugangs für Asylbewerber und geduldete Ausländer“ v. 6. November 2014 von Prof. Dr. Norman Paech

In seinem Gutachten vom 24.03.2015 für die Europäische Rom und Sinti Union sieht Norman Paech die dem Gesetzgeber des Einstufungsgesetzes aufgegebenen Prüfungsanforderungen des Art. 16 a Abs. 3 S. 1 GG und der EU-Richtlinien 2011/95 und 2013/32 EU missachtet und kommt zusammenfassend zu folgenden Feststellungen:

Die (...) vorgetragenen Tatsachen über die reale Lebenssituation der Roma in Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina belegen, dass es nicht gerechtfertigt ist, diese drei Staaten als sichere Herkunftsstaaten zu bestimmen. Die vielfältigen Diskriminierungen, die faktisch alle Lebensbereiche der Roma erfassen, mögen für sich genommen jeweils nicht die Intensität erreicht haben, um als Verfolgung qualifiziert werden zu können. In ihrer Gesamtwirkung zusammengenommen haben sie jedoch einen Zustand der Ausweglosigkeit geschaffen, dem viele nur noch auf dem Wege der Flucht zu entkommen glauben. Wenn der Gesetzgeber in der Begründung des Einstufungsgesetz diese Situation kumulativer Diskriminierung zwar als insgesamt schwierig bezeichnet, ohne sie jedoch als Verfolgung zu erkennen, verharmlost er nicht nur, sondern missachtet die Prüfungsanforderungen des Art. 16 a Abs. 3. S. 1 GG und der EU Richtlinien2011/95/EU und 2013/32/EU. Er bleibt damit immer noch dem alten engen Verfolgungsbegriff verhaftet.

Dieser auf die staatliche und vorwiegend politische Verfolgung beschränkte Begriff ist in den letzten zehn Jahren unionsrechtlich erweitert worden. Das Zusammenwirken unterschiedlicher negativer Faktoren, die in verschiedenen Lebensbereichenschwerwiegende Schäden und katastrophale Zustände hervorrufen, kann nach den unionsrechtlichen Vorgaben zu einer Situation der Verfolgung führen. Dieses ist im Fall der Volksgruppe der Roma in allen drei Staaten der Fall. Zudem verzichtet der erweiterte Verfolgungsbegriff auf seine überkommene Fixierung auf den Staat, die nur die Verfolgung staatlicher Institutionen, sei es die Polizei, Justiz, Behörden oder Gesetzgeber, anerkennt. Die Verfolgung kann auch von privaten Organisationen oder Einzelakteuren ausgehen. Die Gesetzes-begründung spricht zwar davon, dass dieser neue Maßstab berücksichtigt worden sei, faktisch sprechen jedoch alle Ausführungen in der Begründung dagegen.

Die unionsrechtliche Erweiterung bezieht sich nicht nur auf den Verfolgungsbegriff, der nunmehr nichtstaatliche Akteure und die Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen umfasst. Es muss jetzt auch nachgewiesen werden, dass /die Herkunftsstaaten für die Roma sicher sind, es genügt nicht mehr, dass die Sicherheit gewährleistet erscheint. Diesen Nachweis hat der Gesetzgeber mit seiner Geset-zesbegründung, der Anhörung des Innenausschusses und der Bundestagsdebatte aber nicht bringen können. Der von Eile und dem politischen Auftrag des Koalitionsbeschlusses zwischen den Regierungs-parteien geprägte Gesetzgebungsprozess ließ keine Zeit für sorgfältige Recherchen über die sozialen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen in den drei Ländern. Das Ergebnis war vorher beschlossen worden und war ausschließlich von dem Interesse an der Abwehr größerer Flüchtlings-bewegungen in die Bundesrepublik und der weiteren Beschleunigung des ohnehin schon kurzen Asylprüfungsprozesses bestimmt.

Der Gesetzgeber hat diese neuen Anforderungen an seine Prüfungssorgfaltnicht erfüllt. Dem UNHCR ist zuzustimmen, wenn er den Gesetzentwurf rügt:

"Die Ausführungen im Referentenentwurf zur Sicherheit in den drei Ländern stellen vor allem auf die Rechtslage sowie auf die Abwesenheit systematischer Menschenrechtsverletzungen oder politischer Verfolgung ab. Dies gilt auch für die Einschätzung der Situation von Minderheiten. Insofern wäre es erforderlich gewesen, die Anwendung der rechtlichen Vorschriften in der Praxis genauer zu analysieren und auch die Situation hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sowie zu Diskriminierungen genauer zu eruieren, um die Situation im Hinblick auf die einschlägigen rechtlichen Kriterien umfassend bewerten zu können. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass öffentlich verfügbare Berichte insofern auf erhebliche Probleme hindeuten."

UNHCR, Stellungnahme zum Referentenentwurf der Bundesregierung v. 28. Februar 2014, S. 6.

Der globale Hinweis im Gesetzentwurf auf zahlreiche Untersuchungen nationalerund internationaler Organisationen hat keine inhaltliche Substanz. Er täuscht eine Arbeit vor, die offensichtlich nicht geleistet worden ist. Stattdessen stützt er sich vornehmlich auf Angaben aus den jeweiligen Regierungen und den Asyllageberichten des Auswärtigen Amtes. Das ist keine sorgfältige Prüfung, wie sie das Bundesverfassungsgericht gefordert hat.

Der neue unionsrechtliche Prüfungsmaßstab ist für alle öffentlichen Institutionen, insbes. den Gesetzgeber, verbindlich. Er ist ebenfalls für das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nachprüfbar. Das Gericht maßt sich dabei nicht an, eine europarechtliche Norm zu kontrollieren und damit die strikten nationalen verfassungsrechtlichen Grenzen zu überschreiten. Es stützt lediglich seine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes auf Normen, die in deutsches Recht transformiert worden sind und zieht sie zur Interpretation der verfassungsrechtlichen Grundlage, Art. 16 a Abs. 3 GG, heran. Die beiden EU-Richtlinien haben die Prüfungsanforderungen des Grundgesetztes weder aufgehoben noch verändert. Sie haben sie erweitert, u. zw. mit der gleichen grundrechtsschützenden Intention wie die Verfassung selbst. Indem die EU-Richtlinien zur Interpretation des im Grundgesetz offen und ohne spezifische Eingrenzung formulierten Verfolgungsbegriffs herangezogen werden, liefern sie eine zeitgemäße, den gegenwärtigen sozialen Bedingungen in den Herkunftsstaaten entsprechende Auslegung und Anwendung des Tatbestandes der Verfolgung.

Die niedrigen Anerkennungsquoten für Roma sowohl des Bundesamtes wie der Verwaltungsgerichte können nur bedingt als Indiz für die Sicherheit der Herkunftsstaaten dienen. Zum einen ist die Tätigkeit des Bundesamtes selbst von dem Bestreben der Entlastung der Bürokratie, der Beschleunigung der Verfahren und der Reduzierung der Flüchtlingszahlen geprägt. Viele der Verwaltungsgerichts-entscheidungen kennzeichnen die gleichen Defizite wie die Begründung des Gesetzentwurfes: ein immer noch staatsfixierter Verfolgungsbegriff und eine nur begrenzte Bereitschaft bzw. Möglichkeit, die reale Situation der Roma und anderer Flüchtlinge zu untersuchen und zur Kenntnis zu nehmen. Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, hat das Dilemma zwischen Elend und Verantwortung auf den Punkt gebracht:

„Viele von denen, die aufgebrochen sind und Asyl in der EU gesucht haben, haben dies aus eigenem Antrieb getan und weil sie physische und/oder wirtschaftliche Unsicherheit unmittelbar erfahren haben. Sie wollten der Ungerechtigkeit und/oder der Armut und dem erbärmlichen Elend entkommen. Die Tatsache, dass Roma in dieser Kategorie überrepräsentiert sind, spiegelt nur die reale Situation in dieser Region wieder.
Der Anstieg der Asylbewerbungen in einigen Ländern ist mehr ein Symptom als der Kern des Problems. Es ist ein weiteres Zeichen dafür, dass Europa es nicht geschafft hat, den Zyklus von Antiziganismus, Diskriminierung und Marginalisierung der Roma Völker zu durchbrechen. Es sollte als eine Mahnung dafür gesehen werden, dass ernsthaftes Handeln überfällig ist. Es ist offensichtlich, dass selbst wenn der notwendige politische Wille zu effektivem Handeln für Minderheitenrechte geweckt ist, es beträchtliche Zeit dauern wird, bevor die Grundursachen dieser Probleme beseitigt sind und die Romafamilien nicht länger den Drang fühlen, eine Zukunft außerhalb ihres Landes zu suchen. In der Zwischenzeit muss jede diskriminierende Behandlung der Roma durch die Bestimmungsländer vermieden werden. Asyl zu begehren ist ein Menschenrecht und diejenigen, die Gründe für einen Schutzstatus haben, müssen einen solchen Status erhalten. Andere müssen eine negative Entscheidung akzeptieren.“

Menschenrechtskommissar des Europarats Thomas Hammarberg am 22. November 2011, www.ein.org.uk/news/coe-right-leave-ones-countryshould-be-applied-without-discrimination. (eigene Übersetzung)

Die Roma sind zweifellos solche Menschen, die einen Schutzstatus erhalten sollten, da ihre Staaten nicht sicher für sie sind. Diesem wird das vorliegende Gesetz in keiner Hinsicht gerecht. Alles in allem hat der Gesetzgebungsprozess so schwere Mängel, dass das Gesetz selbst für verfassungswidrig erklärt werden muss.

Das Gutachten in vollem Wortlaut:

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