Als wenn die Menschen in diesem Land nicht genug arbeiten würden
Die neue Koalition will bisherige Arbeitszeitregelungen und dabei den Schutz der täglichen Stunden-Obergrenze abschaffen
Als wenn der Arbeitsdruck nicht schon groß genug wäre, soll nach dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD für noch mehr Flexibilität bei den Arbeitszeitregelungen gesorgt werden, insbesondere durch Abschaffung der täglichen Höchstarbeitszeit. Orientieren will man sich am EU-Recht, das lediglich eine Obergrenze für die wöchentliche Arbeitszeit vorsieht.
Im Chor mit den Arbeitgeberverbänden reichen sich Kanzler Merz und u.a. sein Adlatus Linnemann in den Medien die Klinke in die Hand, um die Mär zu verbreiten, dass in Deutschland zu wenig gearbeitet und deshalb der Gedanke an eine Work-Life-Balance am besten ad acta gelegt werde.
Was aber wirklich droht, ist der 13-Stunden-Tag!
Unter der keineswegs gesicherten Voraussetzung, dass es nach Beendigung eines Arbeitstages bei der bislang gesetzlich in der Regel garantierten Ruhezeit von mindestens 11 Stunden (§ 5 ArbZG) verbleibt, dürften den Arbeitnehmenden bis zu 13 Stunden tägliche Arbeitszeit abverlangt werden. Und bei Beibehaltung der wöchentlichen Höchstgrenze von bis zu 60 Stunden aus dem aktuellen Recht könnten solche 13-Stunden-Tage an vier aufeinanderfolgenden Tagen angeordnet werden.
Was viele und offenbar auch die neuen Koalitionäre dabei vergessen: Schon nach jetziger Rechtslage kann an bis zu 6 Werktagen bis zu 10 Stunden pro Tag (im Ergebnis also bis zu 60 Stunden wöchentlich) gearbeitet werden, wenn nur innerhalb eines Zeitraums von 6 Monaten (Europarecht verlangt innerhalb von 4 Monaten) ein Ausgleich auf insgesamt durchschnittlich 8 Stunden werktäglich, also - da auch der Samstag als „Werktag“ gilt - auf bis zu 48 Stunden pro Woche, erfolgt.
Bereits jetzt verschafft mithin die geltende Rechtslage enorm viel Flexibilität, und dies, obwohl Arbeitszeitrecht immer als Arbeitsschutzrecht gedacht und praktiziert werden soll, weswegen der Ankerpunkt des nach langen Arbeitskämpfen im Jahr 1918 durchgesetzten 8-Stunden-Tags von elementarer Bedeutung ist.
Flexibilisierung um jeden Preis?
Wissenschaftlich ist seit Langem erwiesen, dass verlängerte Arbeitszeiten und eine höhere von den persönlichen Bedürfnissen der Beschäftigten abgekoppelte Flexibilität ganz erhebliche negative Auswirkungen auf deren Gesundheit haben: Kopfschmerzen, diverse Kreislauferkrankungen, erhöhtes Krebsrisiko, vermehrtes Auftreten von Burn-out und Depression bis hin zu einer erhöhten Sterblichkeit (vergleiche nur die Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin [BauA], Fokus DOI. 10.21934/baua.fokus 20230807 sowie die umfassende schriftliche Stellungnahme der BauA im Rahmen der Bundestagsanhörung vom 22.4.2024).
Nachgewiesen ist beispielsweise, dass ab der 8. Arbeitsstunde das Unfallrisiko exponentiell steigt, so dass Arbeitszeiten über 10 Stunden als „hoch riskant“ eingestuft werden. Nach einer Arbeitszeit von 12 Stunden erhöht sich dann das Unfallrisiko gegenüber einem 8-Stunden-Tag um das Doppelte; vgl. die Nachweise in der Studie der BauA, dort u.a. S. 7, Fokus DOI. 10.21934/baua.fokus 20230807.
Dabei sind diese allgemein anerkannten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse Ergebnis von Untersuchungen, die auf der Basis der bislang geltenden Rechtslage mit einer Begrenzung der täglichen Höchstarbeitszeit auf zehn Stunden erfolgt sind. Man möchte sich nicht ausmalen, welche gesundheitlichen Konsequenzen viele Beschäftigte bei einer Umsetzung der Pläne der Koalition erleiden werden.
Bei Beschäftigten in Vollzeit beträgt schon jetzt die reale wöchentliche Arbeitszeit im Durchschnitt 43 Stunden. Das sind im Schnitt 4,3 Stunden mehr als tariflich oder vertraglich vereinbart. Viele Beschäftigte wünschen sich daher eine Verkürzung ihrer Arbeitszeiten. Beredtes Beispiel ist, dass etwa in der Pflege bzw. im Gesundheitswesen insgesamt Beschäftigte in großer Zahl „freiwillig“ in Teilzeit gehen, um dem Arbeitsdruck überhaupt Stand halten zu können.
Die Umsetzung des Koalitionsvertrages würde also nicht nur eine Grundlage schaffen, die Flexibilität entsprechend den betriebswirtschaftlichen Wünschen noch stärker voranzutreiben, sondern auch eine Zunahme der beschriebenen Krankheitsbilder bedeuten. Eine auch gesundheitsfördernde Work-Life-Balance rückt in weite Ferne.
Entgrenzte Arbeit als gesellschaftliches Leitbild?
Zudem scheinen die Koalitionäre auch die gesellschaftlichen Auswirkungen entgrenzter Arbeit aus dem Blick verloren zu haben. In Zeiten eines immer weiter verbreiteten neoliberalen Denkens und weiter erstarkenden rechten Kräften kommt es auch auf das gesellschaftliche, politische und gewerkschaftliche Engagement aktiver Arbeitnehmender an. Wie sollen sich Arbeitnehmende in lokalen Parteigremien, kommunalen Räten, Sportvereinen oder gewerkschaftlichen Ortsvorständen sinnvoll engagieren, wenn die Arbeitszeit infolge der Aufgabe des 8-Stunden-Tags als Regelfall ihre Planbarkeit völlig verliert?
Die Frage der Gestaltung unserer Arbeitszeiten berührt unmittelbar die Frage danach, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Halten wir am Leitbild des politisch informierten und gesellschaftlich engagierten Bürgers als Basis einer demokratisch verfassten Gesellschaft fest, weisen Pläne, die einer weiteren Entgrenzung der Arbeit Vorschub leisten, eindeutig in die falsche Richtung.
Falsche Signale beim Thema Arbeitszeiterfassung
Doch die Koalitionäre scheinen sich hieran kaum zu stören. Um das Problem der ausufernden Arbeitszeiten in den Griff zu bekommen, wäre es zunächst dringend notwendig, zumindest die verbindlichen Vorgaben des EuGH für ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ der flächendeckenden Arbeitszeiterfassung endlich umzusetzen. Stattdessen will man – entgegen der Rechtsprechung – die sogenannte Vertrauensarbeitszeit offenbar ohne jede Zeiterfassung „legalisieren“ (also im Ergebnis unbezahlte Überstunden) und - wenn überhaupt - die elektronische Erfassung von Arbeitszeiten „unbürokratisch“ angehen und der Mehrzahl der Betriebe (Klein- und Mittelbetriebe) längere Übergangsfristen einräumen.
Arbeitsschutz ist aber eine staatliche Aufgabe. Wer jetzt schon ankündigt, zentrale Schutzanforderungen auf ein „absolutes Minimum“ zu reduzieren, gibt einen Freibrief für die Unternehmen, selbst aufgeweichte Arbeitszeitbestimmungen nur noch als lockeren Rahmen zu betrachten, von dem zu Lasten der Beschäftigten „nach oben“, ohne die Gefahr einer Sanktionierung, abgewichen werden darf.
Steuerliche Freistellungen von Überstundenzuschlägen
Die nach dem Koalitionsvertrag weiterhin geplante steuerliche Freistellung von Überstundenzuschlägen soll nach den derzeitigen Vorschlägen nur Vollzeitbeschäftigte begünstigen, obwohl die Rechtsprechung entsprechende Bevorteilungen im Verhältnis zu Teilzeitbeschäftigten in jüngster Zeit als Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verurteilt hat. Diese Benachteiligung trifft vor allem Frauen. Sie sind immer noch diejenigen, die – auch weil sie immer noch niedriger vergütet werden als Männer – den größten Teil der Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen übernehmen und deshalb im Beruf zurück- stecken (müssen). Statt durch steuerfreie Überstundenzuschläge die traditionelle Rollenverteilung weiter zu fördern, sollte die Erwerbstätigkeit von Frauen durch bedarfsgerechte Kinderbetreuung und Entgeltgleichheit gesteigert werden.
Darüber hinaus setzt die Begünstigung solcher Zuschläge ebenfalls falsche, weil potenziell gesundheitsgefährdende, Anreize, weit über die reguläre Arbeitszeit hinaus zu arbeiten. Und das in einer Zeit, in der ohnehin schon eine Vielzahl von Überstunden geleistet werden; im Jahr 2024 waren es 552 Millionen bezahlte und ca. 638 Millionen unbezahlte Überstunden (Statistisches Bundesamt, Statist Research Department Wirtschaft & Politik, Arbeit & Beruf v. 04.03.2025).
Ein weiterer „Pferdefuß“ liegt auch darin, dass Steuerfreiheit nach der geltenden Rechtslage auch Sozialversicherungsfreiheit bedeutet, m.a.W. solche Gehaltsbestandteile finden weder bei der Arbeitslosen- noch bei der Rentenversicherung Berücksichtigung.
Wenn der Gesetzgeber sich schon auf Europarecht berufen will, sollte er Art. 31 der EU-Grundrechtecharta zum Maßstab seines Handelns machen. Unter der Überschrift „Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen“ ist hier Folgendes formuliert:
- Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.
- Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.
Wir fordern daher:
- Erhalt des § 3 ArbZG in seiner derzeitigen Fassung, ergänzt um die generelle Pflicht zur manipulationssicheren elektronischen Arbeitszeiterfassung
- Wirksame staatliche Kontrollen durch die Arbeitsschutzbehörden, um flächendeckenden Missbrauch in den Unternehmen (z.B. massenhaft unbezahlte Überstunden und Überschreitung von Arbeitszeitgrenzen) nachhaltig zu bekämpfen
- keine steuerliche Begünstigung von Überstunden
- Schaffung eines echten Rechtsanspruchs auf Vollzeit und wirksame Regelungen, um beschäftigtengerecht die Arbeitszeiten den jeweiligen Bedürfnissen und Lebensphasen anpassen zu können
- Abschaffung der Schwellenwerte und Sperrfristen im Teilzeit- und Befristungsgesetz
- Wirksame und unabhängig durchzuführende Gefährdungsbeurteilungen in den Betrieben – notfalls auf staatliche Anordnung –, um dem Arbeitsschutz und der dazu gehörenden Begrenzung von Arbeitszeiten Geltung zu verschaffen
- Verankerung eines ausdrücklichen Rechts auf Abschalten der elektronischen Medien nach Arbeitsende und Nichterreichbarkeit in der Freizeit
- Wirksame Unterstützung der betrieblichen Mitbestimmung bei allen Arbeitszeitthemen, einschließlich eines Initiativrechts, flächendeckende elektronische Zeiterfassung betrieblich durchzusetzen
- Beibehaltung des Grundsatzes des Acht-Stunden-Tags
Aus unserer täglichen Praxis als Arbeitsrechtsanwält:innen sowie aus unserer rechtspolitischen Tätigkeit in der Vereinigung Demokratischer Jurist:innen wissen wir, welche elementare Bedeutung den Arbeitszeitthemen in der Arbeitswelt zukommt. Wir würden uns freuen, wenn alle, die wir hiermit ansprechen, sich ebenfalls in diesem Sinne einsetzen würden.