Erklärung

Demokratie- und Grundrechteabbau in der Corona-Krise beenden!

Verfassungskonformer Gesundheitsschutz muss differenziert und gefahrenbezogen vorgehen

Die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung durch Bund, Länder und Kommunen haben zu den schärfsten Grundrechtsbeeinträchtigungen seit Bestehen der Bundesrepublik geführt. Gleichzeitig ist festzustellen, dass die Einschränkungen von weiten Teilen der Bevölkerung umfassend begrüßt werden. Nach einer konkreten und nachvollziehbaren Gefahrenprognose und der Erforderlichkeit der hieraus abgeleiteten Maßnahme wird bisher noch selten gefragt. Innerhalb kürzester Zeit wurden immer härtere Maßnahmen implementiert, ohne dass die nötige Zeit blieb, die zuvor erfolgten milderen Maßnahmen zu evaluieren. Gerade in Anbetracht der einschneidenden gesetzgeberischen Maßnahmen braucht es funktionierende demokratische Parlamente, eine wirksame parlamentarische und außerparlamentarische Opposition und gerichtliche Kontrolle.

Hohes Gut des Gesundheits- und Lebensschutzes

Der Schutz der Gesundheit ist ein hohes verfassungsmäßiges Gebot, aus dem sich die Pflicht aller hoheitlichen Organe ergibt, Leben und Gesundheit zu schützen. Diese Schutzpflicht steht allerdings nicht jenseits der verfassungsmäßigen Ordnung. Stehen sich konkurrierende Rechtsgüter gegenüber, müssen die widerstreitenden Grundrechtspositionen nach bekannter Verfassungsjudikatur in ein Verhältnis „praktischer Konkordanz“ gebracht werden, was heißt, dass die konkurrierenden Schutzgüter und Interessen jeweils zur „optimalen Geltung“ gebracht werden müssen. Der Gesichtspunkt einer größtmöglichen Verwirklichung konkurrierender Interessen, z.B. des Versammlungsrechts und der Religionsfreiheit droht unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes zu verschwinden. In einem Prozess umfassender Grundrechtsoptimierung dürfen die Zunahme von häuslicher Gewalt, die Einschränkung der sozialen Infrastruktur, die Zunahme von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen sowie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Isolation und psychischen Stress nicht unberücksichtigt bleiben. Dasselbe gilt für die wirtschaftlichen Schäden für Selbstständige, abhängig Beschäftigte und Kleinunternehmen. Die betroffenen Rechtsgüter dürfen im Rahmen des Grundgesetzes nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern müssen permanent daraufhin geprüft werden, wie optimale Grundrechtsentfaltung in allen Lebensbereichen möglich ist und wie Eingriffe auf das absolut notwendige Minimum beschränkt werden können. Diese Grenze ist – wie mittlerweile gerichtlich festgestellt wurde – etwa überschritten, wenn Versammlungen ohne Rücksicht auf die Umstände ihrer Durchführung pauschal verboten werden.1

Schutzpflicht Gesundheitsschutz – auch nach Corona

Aufgrund des hohen verfassungsrechtlichen Ranges von Leben und Gesundheit, ist der Staat verpflichtet, bereits bei der Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung zu handeln. Daher bestand die verfassungsrechtliche Pflicht die Krankenhauskapazitäten zu erhöhen, die Bürgerinnen und Bürger über Gefahren zu informieren und zu eigenverantwortlichem solidarischem Handeln aufzufordern. Der verfassungsrechtlichen Vorsorgepflicht steht es aber beispielsweise entgegen, die jetzigen Verbesserungen im Gesundheitswesen in der Pandemie an einer betriebswirtschaftlichen Gewinnorientierung auszurichten oder nach der Krise Verbesserungen in der Versorgung durch Kürzungen und Privatisierungen wieder zunichte zu machen. Bereits ohne Covid-19-Krise befanden sich die Krankenhäuser an personellen Kapazitätsgrenzen.2 Es ist dafür Sorge zu tragen, dass die medizinische Versorgung – auch personell – jederzeit gewährleistet ist, ohne dass dies wiederum Gefahren für die körperliche Unversehrtheit der Beschäftigten im Gesundheitsweisen zur Folge hat.

Das staatliche Handeln findet jedoch dort seine Grenzen, wo wiederum Leben und Gesundheit beeinträchtigt werden, beispielsweise durch die Zunahme von depressiven Erkrankungen aufgrund der Kontaktbeschränkungen oder zunehmender Gewalt in der Familie. Denn dies würde bedeuten, dass das Leben und die Gesundheit der an Covid-19-Erkrankten bei Erlass der Ausgangs- und Kontaktsperren höher bewertet würde, als das Leben und die Gesundheit der Menschen, die infolge der Eindämmungsmaßnahmen erkranken oder sogar versterben. Eine Abwägung Gesundheit gegen Gesundheit oder Leben gegen Leben ist verfassungsmäßig unzulässig und verletzt das höchste Schutzgut des Grundgesetzes, die Menschenwürde, indem es die Bürgerinnen und Bürger zu Objekten des Staates macht.3

Ungleichheit und Irreversibilität der Grundrechtseingriffe

Ferner stellt sich ein Gleichbehandlungsproblem: Je weniger Wohnraum und persönliche Ausstattung vorhanden ist, etwa in kleinen Wohnungen oder in überbelegten Obdachlosen- oder Geflüchtetenunterkünften, desto belastender ist die soziale Isolation. Auch Kranke und Ältere werden gesundheitlich besonders belastet. Weiter sind es Frauen, die regelmäßig Opfer häuslicher Gewalt werden. Da überwiegend Frauen alleinerziehend sind, denen nun die Unterstützung durch Kitas und Schulen fehlt, sind sie besonders von den Einschränkungen betroffen. Schließlich besteht wie bei allen unbestimmten und auslegungsbedürftigen polizeilichen Maßnahmen die Gefahr des „Racial Profiling“, sodass die Maßnahmen Migrantinnen und Migranten sowie soziale Randgruppen überproportional hart treffen dürften.

Viele der Einschränkungen stellen sich zudem nicht als „nur vorübergehend“ dar. Aufschieben kann man vielleicht einen Erholungsurlaub im Ausland. Das gilt allerdings nicht für anlassbezogene Versammlungen oder den Ostergottesdienst – sie sind zeitabhängig und können nicht später „nachgeholt“ werden. Dasselbe gilt für viele Verdienstausfälle und ungenutzte Arbeitsstunden, die später nicht kompensiert werden. Auch der Besuch und Beistand sterbender Verwandter oder nahestehender Menschen lässt sich nicht aufschieben. Die Einschränkung der Grundrechte ist daher – auch wenn die Beschränkungen irgendwann aufgehoben werden – nicht nur „vorübergehend“. Sie ist in vielen Fällen endgültig. Auch das muss bei einer Grundrechtsabwägung berücksichtigt werden.

Gerichtliche Überprüfbarkeit der Gefahrenprognosen und Maßnahmen gewährleisten

Wie bei jeder Gefahrenprognose kommt Gesetz- und Verordnungsgebern eine Einschätzungsprärogative zu. Dass diese Prognosen mit einer Unsicherheit behaftet sind, entzieht sie nicht der gerichtlichen Kontrolle. Vielmehr stellen Prognosen stets ein Wahrscheinlichkeitsurteil dar, dessen Grundlagen ausgewiesen werden müssen und einer gerichtlichen Beurteilung grundsätzlich nicht entzogen sind.4 Die Beurteilungsdichte hängt wiederum von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter ab.5 Da durch die Covid-19-Eindämmungsverordnungen Grundrechte von überragender Bedeutung eingeschränkt werden, wird man eine hohe gerichtliche Beurteilungsdichte annehmen müssen. Man wird mindestens verlangen können, dass die Gefahrenprognosen und die hieraus abgeleiteten Maßnahmen durch nachvollziehbare Tatsachen begründet werden und dass die Begründung nicht gegen Denkgesetze verstoßen darf und allgemeine Erfahrungssätze und die Erfahrungssätze des jeweiligen Fachgebiets beachten muss. Entspricht es beispielsweise der einschlägigen wissenschaftlichen Methodik bei der Bewertung der Gefährlichkeit einer Infektionskrankheit die Dunkelziffer der Infizierten zu beachten oder kann bei einem/einer Verstorbenen nur festgestellt werden, ob er/sie infiziert war und nicht ob er/sie auch an der Infektion gestorben ist, so ist dies auch juristisch relevant und darf bei der Gefahrenprognose nicht ausgeblendet werden. Gleiches gilt für Falsch-Positiv-Fehlerraten bei Infektions- und Anti-Körper-Tests.

Fazit

Die Frage des Gesundheitsschutzes kann und darf eine komplexe Gesellschaft mit ihren vielfältigen und teils gegensätzlichen Interessen nicht allein dominieren und alle weiteren Entscheidungen vorstrukturieren. Es bedarf einer Berücksichtigung aller grundrechtlich geschützten Güter und Interessen als Folge einer vielseitigen Gefahrenanalyse und im Wege der praktischen Konkordanz. Es muss darum gehen, widerstreitenden Grundrechtspositionen „optimale Geltung“ zu verschaffen.

Entscheidungen über die Einschränkung von Grundrechten dürfen nur unter Berücksichtigung einer Vielfalt von Gefahrenanalysen und Expertenstimmen und dann nur in der Art, in dem Umfang und für die Dauer getroffen werden, wie dies nachvollziehbar und notwendig ist. Dabei sind mildere Mittel (z.B. Auflagen) in die Überlegungen einzubeziehen.

Freiheitsbeschränkenden Maßnahmen müssen nachvollziehbare und konkrete Gefahrenprognosen zugrunde gelegt werden, die einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sind. Der gesamte Abwägungsprozess ist offenzulegen und damit einer gesellschaftlichen Debatte zugänglich zu machen. Wenn dies nicht geschieht, sind Ausgangs- und Kontaktsperren unzulässig. Eine gerichtliche Kontrolle kann nicht allein darauf abstellen, dass Leben und Gesundheit grundsätzlich höher stehen als andere Grundrechte.

Maßnahmen müssen außerdem dem Menschenbild des Grundgesetzes entsprechen: Es muss um kollektive Regeln des Zusammenlebens für verantwortungsbewusste und eigenverantwortliche Menschen gehen. Dabei ist die verfassungsmäßige Gewaltenteilung zu beachten: Statt der Exekutive weitere Spielräume zu eröffnen, muss eine vielstimmige, parlamentarische und außerparlamentarische Auseinandersetzung und Kontrolle stattfinden.

Die Neugestaltung des Zusammenlebens und die Verteilung der Lasten nach dem shut-down muss demokratisch, sozial und plural erfolgen. Die Zeit der Alternativlosigkeit ist vorbei.

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1BVerfG, Beschluss vom 15. April 2020 - 1 BvR 828/20.

2Während der letzten schweren Grippeepidemie 2017/2018 starben in Deutschland 25.100 Menschen, vgl. www.aerzteblatt.de/nachrichten/106375/Grippewelle-war-toedlichste-in-30-Jahren

3BVerfG vom 15.02.2006 – 1 BvR 357/05 Rn. 121 ff.

4BVerfG vom 01.03.1979 - 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und BvL 21/78 Rn. 131.

5BVerfG vom 01.03.1979, a. a. O.

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