Kein Recht am Ende des Tunnels
Auch nach der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) fehlte es an einer hinreichenden Rechtsgrundlage für den „Lockdown light“, der mit seiner einseitigen Privilegierung von Wirtschaftsinteressen gleichheitswidrig war. Der nunmehr beschlossene „harte Lockdown“ verschärft dieses Problem, ohne es zu lösen: Es fehlt weiterhin an einem grundsätzlichen Konzept, die extrem beeinträchtigenden Eindämmungsmaßnahmen sind ebenso wenig zielgenau wie im Frühjahr.
Mit der Novellierung des IfSG durch das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz vom 18. November 2020 wollte die Bundesregierung auf die wachsende Kritik aus Rechtsprechung und Literatur reagieren und die bereits seit Monaten ergriffenen Corona-Maßnahmen auf einen rechtsstaatlichen Boden stellen. Hintergrund der Kritik war, dass § 28 IfSG seinem Wortlaut nach als Ermächtigungsgrundlage nur für Maßnahmen herangezogen werden kann, die sich auf Infizierte oder Infektionsverdächtige beziehen, die im Gefahrenabwehrrecht Störer heißen. Seit März werden allerdings ganz überwiegend Nicht-Infizierte und damit Nicht-Störer*innen von den Maßnahmen betroffen. Zweiter Kritikpunkt war, dass die Maßnahmen nur auf eine in Tatbestand und Rechtsfolge unbestimmte Generalklausel gestützt wurden und die beispiellose Tragweite der Grundrechtseingriffe ein Parlamentsgesetz erfordert.
Die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) hat bereits im April in einer Erklärung festgestellt, dass die im Zuge der Pandemiebekämpfung ergriffenen Maßnahmen schwerwiegende Grundrechtseinschränkungen in nie dagewesenem Ausmaß darstellen und es deshalb wesentlich ist, dass diese Maßnahmen auf eine ausreichende rechtsstaatliche Grundlage gestellt werden. Wir stellen heute fest, dass diese Kritikpunkte durch die Gesetzesnovelle nicht ausgeräumt wurden und die Gesetzesänderung die Einseitigkeit und Ungerechtigkeit des Lockdowns lediglich gesetzlich wiederholt.
Der neu eingeführte § 28a IfSG, der in diversen Unterabsätzen und Ziffern sämtliche bisher ergriffenen Maßnahmen der Landesregierungen als mögliche Eindämmungsmaßnahmen einer Verbreitung des Sars-Cov2-Virus benennt, ist keine ausreichende Rechtsgrundlage. In dem Gesetz ist keine klare Regelung dafür enthalten, wann eine bestimmte Rechtsfolge greift. § 28a Abs. 2 IfSG nennt lediglich Kennziffern (z.B. 50/100.000 pro sieben Tage), aus denen sich nicht ergibt, welche der in § 28a Abs. 1 IfSG genannten Maßnahmen in welcher Reihenfolge und Intensität ergriffen werden dürfen. Damit ist § 28a IfSG genauso unbestimmt wie § 28 IfSG. Eine klare Regelung, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die hierdurch eintretenden Grundrechtseinschränkungen Rechnung trägt und die Schwere der jeweiligen Maßnahmen an die Schwere der Pandemielage binden würde, fehlt vollkommen.
Auch das Demokratiedefizit bleibt weiter bestehen: Stellt der Bundestag eine „pandemische Lage von nationaler Tragweite“ fest, sind die Länderparlamente auch bei beispiellosen und schwerwiegenden Grundrechtseingriffen außen vor. Die parlamentarische Beteiligung des Bundestages bestand bisher lediglich darin, das abzunicken, was seit Monaten geschieht.
Der Bundesvorsitzende der VDJ, Rechtsanwalt Joachim Kerth-Zelter weist darauf hin: „Die Regelungen des so genannten „Lockdowns light“ aber auch die neuen Lockdown-Regelungen sind neben der fehlenden rechtsstaatlichen Klarheit im Kern auch deshalb problematisch, weil nur ein Teil der sozialen Kontakte eingeschränkt wird. Weiterhin müssen die Menschen überwiegend zur Arbeit gehen, ohne dass sichergestellt wäre, dass die Betriebe sichere Arbeitsbedingungen hergestellt haben und dies auch durch die Aufsichtsbehörden kontrolliert würde. Kontakte zwischen Menschen können schon aus Versorgungsgründen nicht auf null reduziert werden. Die auch rechtlich relevante Frage heißt, welche Kontakte privilegiert und welche eingeschränkt werden. Die VDJ beklagt die unverändert harte soziale Schieflage, wo Menschen in Flüchtlingsheimen und Pflegeheimen unzureichend geschützt werden und andere in ihren viel zu kleinen Wohnungen eingesperrt sind.“
Zu stark im Fokus der Kontaktreduzierung steht der Bereich des sozialen, kulturellen und persönlichen Austauschs der Einzelnen. Monatelang werden Kultureinrichtungen und Gaststätten sowie Restaurants geschlossen, obwohl diese nicht als Hotspots der Pandemie auffielen und viel Geld in Schutzkonzepte investiert haben. Gleichzeitig wurde die Wirtschaft ohne hinreichende Vorgaben für den Schutz der Arbeitnehmer*innen weiter am Laufen gehalten. Der ausbleibende Erfolg des Lockdowns light ist deshalb auch keine Überraschung. Von der Schließung des gesamten Einzelhandelns werden nun wiederum die großen digitalen Konzerne profitieren.
Nach neun Monaten der Pandemie erscheint es uns überfällig, in einen Modus der parlamentarischen Pandemiebekämpfung überzugehen, der die Menschen als Bürgerinnen und Bürger in ihren Freiheits- und Grundrechten respektiert. Statt nun die Schließung der Schulen als Orten des Lernens und der Bildung, vor allem aber des sozialen Austauschs zu beschließen, hätte man neun Monate Zeit gehabt, Konzepte auszuarbeiten, die die Gesundheit von Schüler*innen und Lehrer*innen sicherstellen. Ein an den Grundrechten orientierter Gesundheitsschutz ist erst gar nicht entwickelt worden, sondern steigenden Infektionszahlen wurde mit verordneter sozialer Isolation begegnet. Wenn Vertreter*innen der Regierung verkünden, dass der Schutz der Gesundheit wichtiger sei als „fröhliches Glühweintrinken“, dann wird deutlich, dass den Entscheider*innen die Tragweite der Maßnahmen und ihre grundrechtliche Bedeutung in keiner Weise bewusst sind.
Insgesamt ist der Mensch als soziales Wesen auch gesundheitlich abhängig von einer sozialen und physischen Nahsphäre, die nicht über Monate hinweg aufgehoben werden darf. Die Bedeutung der Grundrechte und das Recht des Einzelnen auf Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben aber auch die Folgen des Lockdowns werden wie bereits im März und April nicht in den Blick genommen.